Der Haymarket Riot am 4. Mai 1886 in Chicago, oder:
Über den Versuch eines Aufstand im Herzen der amerikanischen Industrie
Wie an jedem 1. Mai feiern sich die Repräsentanten der Arbeiterschaft selbst. Sie erzählen die Geschichte einer kontinuierlichen Verbesserung der Arbeitsverhältnisse aufgrund gewerkschaftlichem Engagement. Sie plaudern von ihren zukünftigen Zielen, wie sie mal mehr, mal weniger die Bosse und das Patronat „in die Knie“ zwingen werden – aber wahrscheinlich eher Kompromisse eingehen werden und diese dann als Siege verkaufen. Der 1. Mai ist der Tag der Arbeit, der Arbeitenden oder Tag des Arbeitskampf, nur eine Frage mit wie viel Pathos und Rhetorik man sich schmücken möchte. Die linken und gewerkschaftlichen Meisterschwätzer spannen ihre Tradition des feierlichen 1. Mai dabei zurück auf die Arbeitskämpfe am Ende des 19. Jahrhunderts und bedienen sich jenen kämpferischen Bewegungen, wie den Ereignissen im Mai 1886 in Chicago, obwohl diese die Gewerkschaften und Repräsentanz überwunden hatten.
Am 1. Mai 1886 streikten zwischen 300 000 und 500 000 ArbeiterInnen in den Vereinigten Staaten, die meistens davon, ca. 90 000, streikten in Chicago. Die ausgebeutete Klasse streikte nicht bloß für einen Achtstundentag, sondern gegen die Arbeitsverhältnisse und Lebensbedingungen. Die Aufständischen brachten in Chicago die gesamte Industrie zum Erliegen. Am 3. Mai intervenierte die Polizei gegen die Streikenden der Landmaschinenfabrik von McCormick, worauf sechs Arbeiter von der Polizei erschossen und mehrere verletzt wurden. Für den Nachmittag am gleichen Tag wurde mit einem Flugblatt „Rache! Rache! Arbeiter, zu den Waffen!“ zu einer Protestkundgebung auf dem Haymarket Square aufgerufen. Auf dem Platz kamen bereits seit mehreren Tagen Revolutionäre und aufständische ArbeiterInnen zusammen und es waren flammende Reden zu hören. Die Versammlungen und Demonstrationen waren immer begleitet von Repression, in dem die Polizei versuchte die Versammlungen zu unterbinden und nicht selten wurden dabei Demonstranten verletzt oder sogar getötet. Am 3. Mai verlief die Demonstration jedoch ohne Schüsse. Am Tag danach, am 4. Mai, wollten wieder Menschen sich auf dem Haymarket versammeln, was die Polizei zu wiederholten mal versuchte zu unterbinden. Dabei eskalierte die Situation als ein Unbekannter eine Bombe in die Polizeireihen warf und die Polizei anfing auf Menschen zu schießen. Auf der Seite der Polizei gab es insgesamt 7 Tote, die Zahl der Toten Protestierenden ist nicht bekannt. Da AnarchistInnen die stärkste und wichtigste Rolle innerhalb der Streikbewegung in Chicago spielten, an den Tagen davor v.a. anarchistische Reden am Haymarket gehalten wurden und die Presse eine regelrechte Hetze gegen bekannte AnarchistInnen betrieb, wurden sie für die Bombe verantwortlich gemacht. Anschließend wurden acht Anarchisten verhaftet und angeklagt: Georg Engel, Adolph Fischer, Louis Lingg, Albert R. Parsons, August Spies, Samuel Fielden, Michael Schwab und Oskar Neebe. Bis auf Letztere wurden alle zum Tode verurteilt (wobei Schwab und Neebe später begnadigt und ihre Strafe in Lebenslänglich umgewandelt wurde). Niemandem konnte durch die Staatsanwaltschaft nachgewiesen werden die Bombe geworfen zu haben, jedoch distanzierten sich die Angeklagten in keinster Weise von revolutionärer Gewalt. Für sie war die Frage von „Schuld oder Unschuld“ lediglich eine bürgerliche Frage und für sie als Anarchisten irrelevant. „Er [der Staatsanwalt] hat nicht etwa die Lehren des Anarchismus kritisiert und verdammt, sondern unsere Methoden, sie in die Praxis umzusetzen“, fasst Louis Lingg vor Gericht passend zusammen. Niemand der Angeklagten bekannte sich zu der Bombe, jedoch sahen sie sich „schuldig“ gegenüber dem bürgerlichen Staat, da sie ihn zerstören wollen. Albert R. Parsons sagte, als er auf der Anklagebank saß: „Genauso ist das Dynamit heute zum Befreier des Menschen von Vorherrschaft und Versklavung durch seine Mitmenschen geworden.“ Adolph Fischers letzte Worte waren „Liberty or Death“. Georg Engel schrie noch kurz bevor er gehängt wurde: „Hoch die Anarchie“.
Bis heute steht die Haymarket Affair als Schauprozess und Justizmord gegen eine kämpferische Arbeiterbewegung. Bis heute bedienen sich linke PolitikerInnen und GewerkschaftsführerInnen der Ereignisse in Chicago und lassen dabei die kämpferischen, die anarchistischen Elemente, aus. Die zum Todeverurteilten, Georg Engel, Adolph Fischer, Louis Lingg, Albert R. Parsons, Agust Spies, nützen ihnen nur als Märtyrern, nachdem sie von von ihren Ideen und Kämpfen entleert wurden – wenn dann wird nur kurz erwähnt, dass es sich bei den „unschuldigen“ verurteilten Arbeiter um Anarchisten handelt. Kein Wort über die anarchistischen Ideen, über revolutionäre Gewalt, Propaganda der Tat. Kein Wort darüber, dass die revolutionäre Stärke der Arbeits- und Streikbewegung in Chicago auf die große Präsenz anarchistischer Ideen, die Propaganda der Tat und direkte Aktion zurück ging, die dafür sorgten, dass in der Stadt die gesamte Industrie lahmgelegt wurde. Der Haymarket Riot wird von den heutigen Gewerkschaftsführern in eine Geschichte der kontinuierlichen Arbeitserfolge eingebettet, während sich Gewerkschaften immer mehr als linker Arm des Kapitals offenbarten. Es ist eine verwässerte Version, welche die heutigen linken Repräsentanten der Arbeiterschaft, über die Ereignisse des Mai 1886 und die Ereignisse die dazu führten, erzählen (wie auch die Geschichte des Kampf für einen Achtstundentag). An eigenen Worten der Gehängten in Chicago und Quellen fehlt es nicht, denn viele von ihnen hielten Reden, schrieben Artikel in anarchistischen Zeitungen und alle hielten eine Rede vor dem Richter, in denen ihre Überzeugungen und Ideen klar werden. Die Vorgeschichte des Haymarket Riot erzählt davon, wie Arbeitern Hoffnung von Gewerkschaften gemacht wurden, sie von diesen enttäuscht wurden und eigene Wege experimentierten, um die Welt zu verändern. Es ist daher notwendig einige Ereignisse vor dem Jahr 1886 zu beleuchten.
„Wir zeigen unsere Liebe, indem wir für unsere Lieben leben, wir beweisen unsere Liebe aber auch, indem wir, wenn es notwendig ist, für sie sterben.“
Albert R. Parsons in einem Abschiedsbrief an seine zwei Kinder
In der zweiten Hälfte des 19. Jhd. emigrierten viele europäische ArbeiterInnen, bzw. eher Arbeitslose, in die USA. Die schlechte Arbeits- und Lebenssituation brachte Viele dazu im „Land der Freiheit“ ihr „Glück“ zu suchen. Nicht wenige mussten aufgrund der politischen Verfolgung in europäischen Ländern auswandern – z.B. erließ der deutsche Staat 1878 die sogenannten Sozialistengesetze, um repressiv und präventiv gegen die „gemeingefährlichen“ AnarchistInnen, KommunistInnen und SozialistInnen vorzugehen. Nicht wenige Einwanderer waren an der Revolution 1848, an revolutionären Kämpfen vor der Pariser Commune 1871 und an der Commune selbst beteiligt. Sie brachten ihre sozialistischen und anarchistischen Ideen, sowie Erfahrungen aus Europa mit in die Vereinigten Staaten. Von den acht Angeklagten in Chicago waren fünf von Deutschland in den 1870er und 1880er in die USA emigriert. New York und Chicago entwickelte sich im 19. Jhd. nicht nur als Zentrum der amerikanischen Industrie, sondern auch als Hauptagitationsorte revolutionärer ArbeiterInnen – da vermutlich gerade dort der Widerspruch der Industriegesellschaft am offensichtlichsten wurde. Die amerikanischen Behörden und der Staat versuchte dabei die Arbeiterklasse, bestehend aus Deutschen, Irren, Tschechen, Polen, Italienern, weißen und schwarzen Amerikanern durch rassistische Mechanismen zu trennen – wie sich diese durch die ganze amerikanische Geschichte zieht. Ein Krieg unter den Armen sollte Klassenkämpfe von Unten ver- oder zumindest, behindern. Dafür stachelte die herrschende und besitzende Klasse immer weiter den Hass der weißen Amerikanern gegen „Neueinwanderer“ an (welche beispielsweise verantwortlich für die Arbeitslosigkeit und Bedingungen gemacht wurden). Bereits in den 1840er Jahren entstanden immer mehr nativistische politische Bewegungen aus dem Bürgertum (die sogenannten Know-Nothings), die sich gegen eine Einwanderung v.a. von Katholiken aus Deutschland und Irland in die USA wehren wollen. In den 1850er etabliert sich diese rassistische, migrationsfeindliche, antikatholische und arbeiterfeindliche Bewegung als Partei – die Know-Nothing Party. Im Jahr 1855 wird Levi D. Boone, ein Vertreter der Know-Nothing, Bürgermeister von Chicago und er verspricht seinem Wahlpublikum die Stadt von den „Ausländern“ zu säubern. Einige seiner ersten Amtshandlungen sind Restriktionen gegen die Arbeiterklasse und besonders gegen die deutsche und irische Arbeiterschaft. So wurde die Schanklizenz von 50 auf 300 Dollar pro Jahr erhöht und es wurde verboten Tavernen, Saloons und Biergärten Sonntags (am einzigen freien Tag der Arbeiter) zu öffnen. Dies waren Orte der Gemeinschaft, aber auch die bedeutendsten Orte zum Austausch und Verbreitung von revolutionären Ideen. Danach kam es zu mehreren hundert Verhaftungen von Menschen, v.a. Deutschen, die sich nicht an die Ordnung hielten. Am 21. April 1855 wollten ArbeiterInnen demonstrieren und zum Rathaus marschieren. Der Bürgermeister Boone ordnete Polizisten, Kanonen und Milizen an, zu erst die Demonstration zu stoppen und dann auf diese zu schießen, dabei wurde mindestens ein Demonstrant erschossen. Wie bei diesem Protest, dem sogenannte Lager Beer Riot, kam es oft zu Überfällen der Polizei und privat Milizen der Industriellen auf Demonstrierende. Aus den Erfahrungen mit der Gewalt der herrschenden Klasse und ihren Dienern, entwickelten sich Lehr- und Wehrvereine von Arbeitern, die sich gegen solche Angriffe bewaffnet verteidigen wollten. Recht schnell nach Gründungen von bewaffneten Arbeiter-Vereinen durchs ganze Land im Jahre 1877 und 1878, wurde durch eine Panikmache beim Bürgertum, ein neues Milizgesetzt erlassen, welches solche Organisationen, die nicht ein Staatspatent besitzen, verbot. Eine „Bewaffnungsfrage“ spaltete auch die „Sozialistische Arbeiterpartei“ der USA 1880. Während die einen die Lage der Arbeitenden durch Wahlen und Lohnstreiks verbessern wollte, sagten die Anderen, dass die soziale Revolution, Gewalt benötigte. Die Letzteren, die Sozialrevolutionäre (zu denen v.a. AnarchistInnen zählten), bekommen am meisten Zuspruch, besonders in New York und Chicago.
„Der Diebstahl ist ein ehrenwertes Gewerbe, wenn er von der privilegierten Klasse ausgeübt wird; es ist ein Kapitalverbrechen, wenn eine andere Klasse aus Notwehr und in ihm Zuflucht nimmt. Raub und Plünderung sind für eine gewisse Sorte von Herren, die diese Art, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, leichter finden als ehrliche Arbeit, die Regel – eine Regel, die Sie Ordnung nennen. Diese Ordnung ist es, gegen die wir uns gewandt haben und die wir aus der Welt zu schaffen versuchen, und solange wir leben, weiter aus der Welt zu schaffen versuchen werden.“
August Spies bei seiner Anklagsrede
Im Oktober 1885 gründete sich die International Working People‘s Association, die erste schwarze Internationale in den USA. In ihren Prinzipienerklärung schreiben sie:
„So wenig wie in früheren Zeiten je eine bevorrechtigte Klasse ihre Tyrannei aufgeben hat, so wenig werden die Kapitalisten der Neuzeit auf ihre Privilegien und Herrschaft verzichten. Alle Versuche, das heutige ungeheuerliche Gesellschaftssystem durch friedliche Mittel, wie z.B. durch Wahlen zu beseitigen, waren ganz nutzlos. Daraus ergibt sich, dass der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie einen gewalttätige revolutionären Charakter haben muss, und dass bloße Lohnkämpfe nicht zum Ziel führen. Unter diesen Umständen bleibt nur ein Mittel übrig – die Gewalt.“
Dies in ihrer ersten Erklärung zu schreiben ging auf eine längere Diskussion und Praxis innerhalb des anarchistischen Milieus in Europa zurück, die mit der Emigration in die USA fortgesetzt wurde. Der emigrierte Anarchist Johann Most bspw. veröffentlichte 1875 ein „Handbuch“ zu Herstellung von Dynamit. In den verschiedenen anarchistischen Zeitungen[1] wurde Gewalt als revolutionäres Mittel propagiert und Sprengstoff-Anleitungen verbreitet. Mit der Verbreitung der Methode „Propaganda durch die Tat“ vertrauten die aufständischen ArbeiterInnen den Gewerkschaften immer weniger und lehnten konsequent jede Zusammenarbeit mit den Behörden ab. In konspirativen Treffen dachten die AnarchistInnen darüber nach, wie man die Forderungen der Gewerkschaften, wie des Achtstundentag, überwinden könnte. Sie gingen dabei davon aus, dass der Staat nur auf Forderungen eingeht, wenn er seinen sozialen Frieden und damit die Produktion, in Gefahr sieht – was übrigens heutzutage immer noch zutrifft. Die Übernahme der Forderungen oder Verhandlungsbereitschaft würde dabei die revolutionäre Kraft der Ausgebeuteten brechen. Den AnarchistInnen ging es um eine Überwindung der politischen Taktikerei, des Dialogs und Verhandlungen mit den Herrschenden. Diese Überwindung sahen sie in dem Versuch mit dem Griff zur Waffe und dem Sprengstoff durch die Ausgebeuteten selbst. Mit dem Blick der Gewerkschaftsführung von „Oben“ konnten diese nicht sehen, dass es bei der Bewaffnung der Demonstrationen nicht um die Durchsetzung ihrer gewerkschaftlichen Forderungen (wie dem Achtstundentag) ging, sondern um einen bewaffneten Aufstand zu provozieren, der Versuch einer revolutionären Übernahme Chicagos.[2]
Die Gewaltfrage und die Bewaffnung entstand auch aus der Zuspitzung der Klassengegensätze. Und auf der Seite der Herrschenden gab es eine massive Militarisierung und militärische Intervention in die „Hot-Spots“ aufständischer ArbeiterInnen, wie bspw. 1877 in Chicago, wo 30 Aufständische von der Polizei getötet wurden. Parallel dazu gab es eine Medienhetze gegen aufständische Arbeiter und Anarchisten als „Drahtzieher“. Parsons und Spies wurde von der lokalen Presse vor dem Haymarket Riot als zu erschießende Männer betitelt. Die Chicago Times rief zum Einsatz von Dynamit gegen die aufständischen Arbeiter und Streikenden auf. Nach der Haymarket-Bombe 1886 war die Presse voll mit Schlagzeilen in denen noch schärfer gegen die AnarchistInnen gehetzt wurde. Dabei schreiben sie immer von den aufständischen Arbeiter und Arbeitslosen als „Mob“ und wenn von Arbeiter die rede war, wurde dies immer in Anführungszeichen gesetzt – und dies bis heute eine „Tradition“, um rebellische ArbeiterInnen zu diffamieren.
„Mein größter Wunsch ist es, das die Arbeiter erkennen mögen, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde sind.“
George Engel
Der Achtstundentag wurde von den Gewerkschaften bereits seit 1860 gefordert. 1868 erließ der Kongress ein Bundesgesetz für den Achtstundentag der jedoch nicht komplett umgesetzt wurde oder werden konnte. 1876 hob das oberste Gericht das Gesetz auf. Bis in die 1880er Jahre war der Kampf für einen Achtstundentag im legalen Rahmen geblieben. Er hatte kurzzeitige Erfolge, um dann wider aufgehoben zu werden. Die Gewerkschaften wollten daher endgültig 1886 den Achtstundentag durch Streiks und Einbeziehung von allen(!) ArbeiterInnen (also nicht nur weiße), Arbeitslosen, usw. selbst erkämpfen, dies ging dabei zurück auf den wachsenden Einfluss der Sozialrevolutionäre und Anarchisten aus dem Osten der USA. Der Streik sollte dabei das stärkste Mittel sein. Wahrscheinlich blieb den amerikanischen Gewerkschaftsführern auch nichts anderes übrig, als sich von ihrer klassischen Klientel zu lösen und alle ArbeiterInnen miteinzubeziehen, da die nicht-gewerkschaftlichen Arbeiterkräfte (da sie sich nicht gewerkschaftlich organisieren wollten oder konnten) immer stärker wurden.
In einer Frage unterschieden sich jedoch die New Yorker und die Chicagoer Sozialrevolutionäre/AnarchistInnen. Und zwar bei der Frage, inwieweit man sich an den Kämpfen der Gewerkschaften und dem Kampf für den Achttundentag, beteiligt. Die New Yorker um Johann Most lehnten eine „Bündnispolitik“ und Kämpfe für kurzfristige Forderungen stringent ab. Die Chicagoer AnarchistInnen waren jedoch bereits wichtiger Bestandteil der Gewerkschaftsbewegung in Chicago, sie lehnte zwar genauso reformistische Kämpfe ab, jedoch sahen sie, weniger in den Gewerkschaft, als viel mehr in den Massenaktionen und einer kämpferischen Arbeiterklasse, eines der stärksten Mittel, um den Kapitalismus zu zerstören. Diese Idee einer Verbindung von syndikalistischen und anarchistischen Kämpfen wurde als „Chicagoer Idea“ bekannt. Obwohl sie die Forderungen der Gewerkschaften kritisch sahen, beteiligten sie sich an den Kämpfen. August Spies schreibt im August 1885:
„Wir Chicagoer Anarchisten sagen voraus, dass die Achtstundenbewegung eine verlorene Schlacht sein wird; und es wird sich herausstellen, dass selbst wenn der Achtstundentag durchgesetzt werden sollte, die Lohnarbeiter dadurch nichts gewonnen haben.“
Albert Parson schrieb im „Alarm“:
„Zu akzeptieren, dass die Kapitalisten ein Anrecht auf acht unserer Arbeitsstunden haben, heißt, über einen Kompromiss hinausgehen – denn es bedeutet faktisch die Anerkennung des Lohnsystems.“
Die Chicagoer Anarchisten sahen jedoch wie sich die Arbeiter die Forderungen zu eigen machten und beteiligten sich an den Streiks und Arbeiterdemonstration und wurden mit ihrer Konsequenz die treibenste Kraft in Chicago. Parsons schreibt später demzufolge:
„[wir beteiligten uns,] weil es eine Klassenbewegung gegen Herrschaft war und zweitens konnten wir nicht abseits stehen, um von unseren Brüdern nicht missverstanden zu werden.“
Für die Chicagoer Anarchisten hatte sich die Bewegung in Chicago von zumindest den konservativen Gewerkschaften und den gewerkschaftlichen Forderungen entfernt. Die aufständischen Arbeiter und Arbeitslose trugen die Bewegung selbst.
Wahrscheinlich aus Reaktion über die Stärke der Anarchisten im Osten sah sich die Gewerkschaftsführung dahin gedrängt für den 1. Mai einen Generalstreik zur Erfüllung der Forderung (die nun seit Jahrenzehnten gefordert wurde) endgültig zu stellen. Organisatorisch orientierten sich die amerikanischen Gewerkschaften an der australischen Arbeitertradition des Generalstreiks, der an jedem 1. Mai um 8 Uhr morgens stattfindet. Dabei ist dieser Tag nicht zufällig gewählt, da am 1. Mai die Unternehmen ihr Rechnungsjahr begannen und war dies auch der Tag, an dem Arbeitsverträge verlängert wurden (oder auch nicht). Die Arbeiter waren daher oft gezwungen, umzuziehen, um einen neuen Arbeitsplatz zu finden – darum lässt sich auch die Bezeichnung moving day finden.
„Hütet euch vor den Politikern, sie haben euch stets betrogen und werden euch ferner auch nicht besser bedienen. Die Arbeiter können nur frei sein, wenn sie sich selber befreien.“
Worte von Georg Engel, zitiert nach Johann Most bei einer Rede am Grabmal 1904
Die zweite Häfte des 19. Jhd. war geprägt durch eine Verelendung der unteren Bevölkerung, da u.a. Arbeiten durch Maschinen ersetzt wurden und das Patronat Lohnkürzungen und gleichzeitige Erhöhung der Arbeitszeiten vornahm und wenn dies von den Arbeitern nicht akzeptiert wurde, fand sich unter dem massenhaften Zustrom von migrantischen ArbeiterInnen immer wieder Menschen die diese Konditionen akzeptierten oder akzeptierten mussten. Besonders in Chicago spitzt sich die Lage zu, als es im Oktober 1871 zu einem verheerenden Großbrand kommt, von dem die ärmere Bevölkerung am meisten betroffen ist. Von Europa aus werden Hilfsaktionen organisiert – mehr als fünf Millionen Dollar – welche den Opfern Lebensmittel und Unterkünfte garantieren sollen. Dieses Geld wird jedoch vom Bürgermeister Joseph Mill und den Industriellen der Stadt durch ihre Organisation Relief and Aid Society (RAS) veruntreut. Das ausbeuterische System zeigte sich zudem, als die ArbeiterInnen (v.a. Neueingewanderte, da sie u.a. sprachliche Grenzen hatten) welche die Stadt aufbauten durch die Bauunternehmen nicht bezahlt wurden, auch weil sie den Arbeitern Verträge vorlagen, die sie unterschrieben jedoch nicht komplett lesen konnten. Ein Jahr später im Winter 1872 marschieren mehrere tausend Arbeiter, Arbeitslose, Obdachlose zum Hauptquartier der RAS, um das ihnen zustehende Geld zu fordern. Auch hier, beim sogenannten „Brotaufstand“ wurden die Demonstranten von der Polizei verprügelt. Der Klassenkonflikt verschärfte sich auch von „Unten“ in dem sozialistische und anarchistische Ideen und revolutionäre Praktiken (unter den Eingewanderten) verbreiteten und anklang fanden. Es war Albert Parsons der Anfing nach Beweisen zu suchen, um die betrügerische Masche der RAS offenzulegen. Parsons, der mit 15 verwaiste und von einer Sklavin aufgezogen wurde, kam zusammen mit seiner Frau, Lucy Parsons (eine befreite Sklavin) 1873 nach Chicago, nach dem Albert ausgebürgert wurde, da er Lucy, eine POC, heiratete. Albert gelingt es Beweise für die Betrüge zu finden, da es aber kein Gesetz gibt, wurde niemand von ihnen verurteilt. Lucy und Albert Parsons fingen, wie viele aufständische ArbeiterInnen auch, an die Sachen in die eigene Hand zu nehmen und sich immer mehr von Institutionen und „institutionellen Kämpfen“ zu entfernen, oder sie sogar als feindlich zu sehen, und sie wendeten sich immer mehr einem kompromisslosen Anarchismus zu.
„Wenn der Tod die Strafe für unsere Liebe für die Freiheit aller Menschen ist, so sage ich offen, dass ich mein Leben verspielt habe.“
Albert Fischer bei seiner Anklage
Die Ereignisse im Mai 1886 in Chicago können nicht alleine durch den Tag selbst erklärt werden, sondern resultierte auch einem zuspitzenden Klassengegensatz, sowie die Entfernung der ArbeiterInnen von offiziellen Repräsentanten, wie den Gewerkschaften und das Experimentieren mit eigenen Methoden, der Selbstorganisierung und dem Versuch eines Aufstandes. Wie wir heute wissen wurde die Bombe von einem Anarchisten geworfen, dies erwähnt bspw. Dyer Lum, der die Redaktion der anarchistischen Zeitung „Alarm“ übernahm, sowie Emma Goldman, die auch angibt zu wissen, wer die Bombe geworfen hat. Heute wissen wir, dass es sich bei dem Anarchisten um Rudolph Schnaubelt handelt – der Schwager des Angeklagten Michael Schwab. Er wurde auch kurz nach dem Haymarket Riot verhaftet, als er jedoch erst mal auf freien Fuß kam, floh er aus dem Land. Man kann davon ausgehen, dass alle Angeklagten wussten wer die Bombe geworfen hatte. Die angeklagten Anarchisten distanzierten sich nicht von der Bombe und wie bekannt wurde, hatten sie selbst die Monate davor Waffen bestellt und mit Dynamit experimentiert. Aus der bürgerlichen Sichtweise waren alle AnarchistInnen in Chicago „schuldig“. Der Staatsanwalt sprach von einer „Verschwörung zum Mord“. Sicherlich gab es eine Verschwörung der aufständischen AnarchistInnen, jedoch war nicht das Ziel die Ermordung von PolizistInnen, sondern ein sozialer Aufstand, welcher in den Monaten davor akribisch geplant wurde, jedoch fehlschlug. Sie gingen davon aus, dass der Angriff auf die Polizeireihen zu einem kollektiven Angriff gegen alle Polizeistation in der Stadt führte und so Raum einer totalen Freiheit entsteht. Dies passierte nicht. An was es nun scheiterte bleibt eine offene Frage, die jedoch nicht ausschlaggebend ist. Jedenfalls schoss die Polizei eine unbekannte Zahl von Aufständischen nieder, wobei wahrscheinlich viele ihren Verletzungen erlagen, da sie zudem aus begründeter Angst vor Repression nicht ins Krankenhaus fuhren. Der Haymarket Riot war ein aufständischer Versuch im Mitten des Herzens der amerikanischen Industrie, ein energischer Griff nach der sozialen Revolution, sie hier und jetzt zu beginnen, ohne Delegierte, ohne Verhandlungen mit der Macht. Ein Versuch, wie sie auch all jene revolutionären AnarchistInnen vor und nach ihnen versuchen.
Nach der Haymarket Bombe gehen nicht nur die Regierenden und die Bourgeoise gegen die AnarchistInnen und Aufständischen vor, sondern auch die amerikanischen Gewerkschaften beteiligen sich an der reaktionären Hetzen, indem sie bspw. aufständische ArbeiterInnen aus ihren Reihen säubern. So schrieb der Führer der bedeutendsten amerikanischen Gewerkschaft der 1880er, die Knights of Labor: „Die Knights of Labor respektieren das Gesetz. Ich [Powderly] hasse Anarchie, und ich hasse die Anarchisten.“ Sie werfen jedoch nicht nur alle vermeintlichen Aufständischen aus ihrer Gewerkschaft, sondern biedern sich der Polizei an. So schreibt Powderly weiter:
„Ehrliche Arbeiter befinden sich nicht in den Reihen jener, die unter der roten Fahne der Anarchie, dem Symbol für Blut und Zerstörung, marschieren. Es gibt keine Gewerkschaft in Amerika, die diese Männer von Chicago unterstützen wird, die sich an der Vernichtung von Leben und Eigentum beteiligt haben. Die anarchistische Idee ist unamerikanisch und kann keinerlei Rechte in diesem Land beanspruchen.“
Es folgenden mit der Hilfe der Gewerkschaften, die nicht geleugnet werden kann, neue Gesetze, welche ein Einreiseverbot und die Abschiebung von AnarchistInnen vorsieht. Die amerikanischen Gewerkschaften selbst verkamen zu bloßen Interessenverbänden ohne Bedeutung – die Knights of Labor bspw. verschwindet bereits Ende des 19. Jhd. in der Bedeutungslosigkeit.
Quellen :
AVIV ETREBILAL, Les Cinq „Martyrs“ de Chicago. innocents ou coupables?, in: Des Ruines, No. 1 (2014).
Paul AVRICH, The Haymarket Tragedy, 1984.
Horst KARASEK, 1886 Haymarket. Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe, 1975.
Timothy MESSER-KRUSE, The Trial of the Haymarket Anarchists: Terrorism and Justice in the Gilded Age, 2011.
———, The Haymarket Conspiracy. Transatlantic Anarchist Networks, 2014.
Max NETTLAU, Geschichte der Anarchie. Band 3. Anarchisten und Sozialrevolutionäre, 1931.
———, Band 5. Anarchisten und Syndikalisten. Teil 1, 1984.
Lucy PARSONS, Life of Albert R. Parsons. With brief history of the labor movement in America, 1889.
[1] Aus dem Milieu der schwarze Internationale erschienen zwischen 1883 und 1886 elf Zeitungen (sieben auf deutsch, zwei auf tschechisch und zwei auf englisch). August Spies, Adolph Fischer und Michael Schwab publizierten die „Arbeiter-Zeitung“, mit einer täglichen Auflage von 6 000, sowie „Die Fackel“ und „Vorbote“, die jeweils am Wochenende erschienen. Georg Engel war Redakteur bei der Monatszeitung „Der Anarchist“ und Albert R. Parsons brachte den englischsprachigen „Alarm“ heraus.
[2] Dies ist ein Grund warum es einen Widerspruch zwischen den zeitgenössischen Quellen, wie Zeitungsartikel, Flugblätter, Reden und der historischen Analyse von Gewerkschaftlern, Stalinisten, etc. gibt. Dies analysierten die Bewegung und Ereignisse in Chicago von Oben herab.